Donnerstag, 20. Oktober 2011

Von Guilin bis Kunming

Nach einigen Wochen hier in China habe ich mich mittlerweile von der Ostküste kontinuierlich in Richtung Westen bis nach Xingyi durchgekämpft. Bis zu meinem Ziel Kunming sind es nur noch ein paar hundert Kilometer. Die Landschaft wird mit jedem Kilometer beeindruckender. Traumhaft schöne Wasserfälle, gigantische Schluchten und riesige unterirdische Höhlensysteme kann man hier entweder zu Fuß oder mit Paddelbooten bestaunen. Der Kulturschock ist enorm. Die Menschen, die Städte, alles sieht eben anders aus. Einer der Hauptgründe dafür, dass man von vornherein nicht erwartet, dass hier etwas genauso ablaufen könnte, wie bei uns.



Zunächst erreiche ich jedoch Anshun mit dem Zug. Die Sitzordnung meint es gut mit mir und so sitze ich mit drei Studentinnen an einem Tisch, die auf dem Weg nach Kunming sind. Wir verstehen uns auf Anhieb gut. So gut, dass ich den Ausstieg in Anshun erst mal verpasse. Verdammt. Wohl oder übel muss ich bis zur nächsten Station weiter fahren. Bis nach Luizhi, das eine gute halbe Stunde entfernt liegt.
Dort angekommen versuche ich mich schnellstmöglich um ein Ticket in die entgegengesetzte Richtung zu bemühen. Am Bahnhofsschalter zeige ich mein Zugticket, um verständlich zu machen, wo ich hin möchte. Hektik bricht aus. Zwei Männer kommen auf mich zugestürzt, packen mich an den Armen und ziehen mich nach oben zum Bahnsteig. Lautes Geschrei. Der Zug aus dem ich vor drei Minuten ausstieg ruckt kurz an und fährt weiter. Die Männer sind geknickt. Aber endlich ruhig. Nun habe ich Gelegenheit, ihnen verständlich zu machen, dass ich nach Anshun möchte – in die andere Richtung. Diese Chinesen: In der Eile haben sie wieder nur einen Blick auf die Zugnummer geworfen, nicht aber einen Zweiten auf den Zielbahnhof. Die ganze Aufregung also umsonst. Nun werde ich zum Bahnhofsoffice gebracht. Auf dem Sofa liegt ein Polizist und schläft. Im Büro lautes Gebrabbel. Drei Damen kommen heraus und nehmen sich meiner Person an. Nun beschäftige ich also schon fünf Mitarbeiter. Das ist das Schöne an China: Hast du ein Problem ist jeder bereit dir zu helfen. Fast schon mit Übereifrigkeit. Schwer verständlich hat auch stets jeder Zeit, egal wie lange es dauert. Der Polizist ist mittlerweile durch den ganzen Tumult aufgewacht und bietet mir prompt seinen Platz auf dem Sofa an. Da sitze ich nun, meinen großen Rucksack auf dem Rücken, das Daypack auf der Brust. Um mich herum eifriges Gewusel. Ich warte erst mal ab. Eine Mitarbeiterin kommt auf mich zu und schreibt mir ein paar Zeichen auf ein Stück Papier. Sie besteht darauf, mir das passende Ticket zu besorgen. Ich darf mich nicht vom Fleck rühren. Auch dann nicht, als ich das Ticket bereits in den Händen halte. Sie möchten mir Bescheid geben, sobald der Zug einfährt. Hier in der Provinz, wo das alle zwei Stunden mal der Fall ist. Da sich der „Schnellzug“, äußerlich unserem ICE durchaus ähnlich und mit supernettem Bordpersonal ausgestattet, um eine geschlagene Stunde verspätet, bleibt noch genug Zeit, um mit der halben Bahnhofsbelegschaft plus Polizist bei einer Tasse Tee und einer Runde Karten zusammen zu sitzen. Anschließend werde ich zum Bahnsteig gebracht und winkend verabschiedet. Wie gesagt, das ist das Schöne an China. Immer hat jemand Zeit für dich, ist da jemand, der sich um dich kümmern möchte. Wie bei einer großen Familie..



Gestern habe ich zwei Schweizer getroffen. Es waren seit Guilin, das ich vor knapp einer Woche verlassen habe, die ersten Menschen, mit denen ich wieder ein paar Sätze wechseln konnte. Touristen treffe ich sonst keine. Dementsprechend viel Aufsehen errege ich mit meiner Anwesenheit. Hier im Landesinneren spricht zudem niemand auch nur ein Wort Englisch. Niemand. Das macht das Reisen und mancherorts selbst die eigentlich banale Beschaffung eines Zugtickets zur absoluten Herausforderung. China im Kern, in seiner grob erhaltenen Ursprünglichkeit, verschiebt die Prioritäten. Hier zählen keine Worte, da sie eh niemand versteht. Hier steht die Zwischenmenschlichkeit an erster Stelle. Hier wird auch der noch so selbstgefällige Europäer geerdet. Und es tut gut, das könnt ihr mir glauben.
Auch die Ernährung wird zunehmend komplizierter. Mit der regionalen Küche hier in Guizho kann ich mich so gar nicht anfreunden. Und von den Garküchen, die hier jede Fußgängerzone schmücken, halte ich nach überstandenen Magenkrämpfen erst mal Abstand. Mit der Zeit habe ich mir deshalb angewöhnt, bei der Ankunft in einer neuen Stadt bereits aus dem Taxi die Straßenzüge intensiv nach für mich bedeutenden Einrichtungen zu mustern. Vernünftige Restaurants, Banken und Möglichkeiten des öffentlichen Nahverkehrs stehen dabei an vorderster Stelle. Südchinesische Städte sind meiner Meinung nach recht ähnlich. Kennst du eine, kennst du alle. Sie zeichnen sich nur sehr gering durch einen eigenen Charme, durch einen besonderen Charakter aus. Nicht zuletzt aus diesem Grund fasziniert mich besonders die Provinz. Fernab jeglichen Großstadttrubels und Smogs. Der Weg führt hier zwangsläufig über einen selbst. Hier werden die Akkus für die Weiterreise aufgeladen. Zwar bekomme ich auch viel Armut zu Gesicht, aber begegnen mir dort auch immer wieder tolle Menschen. So aufgeschlossen, offenherzig und hilfsbereit, das es einem Anfangs regelrecht fremd erschien. Die Skepsis legte sich aber rasch und mittlerweile schenke ich diesen Leuten meine Bewunderung. Es ist schwer, das alles in Worte zu fassen und irgendwie möchte ich das auch nicht, aber eines vielleicht: Die Zeit in den weitläufigen Tempelanlagen, geprägt von Demut und Loyalität, diese Stimmung friedvoller und glücklicher Ruhe, ist weitaus mehr als ich mir vor Antritt dieser Reise je zu erträumen wagte. Dem Geist öffnet das Tür und Tor und führt dazu wirklich zu fühlen, dass es da tief im Herzen etwas gibt, das unglaublich viel stärker ist als der Verstand. Dass immense Kraft besitzt, die wir durch den Zugang zu unserem Inneren nutzbar machen können.
  

Eine bestimmte Sache ist allerdings mit Ausnahme der abgelegenen ländlichen, fast fahrzeugfreien Regionen in jedem Winkel Chinas gleich: Das Gedränge auf den Bürgersteigen, wo sich die Leute alle umeinander herumschlängeln und das unbändige Chaos auf den Straßen. Hier herrscht das gnadenlose Prinzip des Stärkeren, besser des Größeren und Schwereren. Kommuniziert wird über die Hupe – ununterbrochen. Gefahren wird dort wo gerade Platz ist. Die Farbe für Straßenmarkierungen, besonders für Fußgängerüberwege, könnte sich der Staat deshalb eigentlich sparen. Lichtleitanlagen im Prinzip auch, denn an Kreuzungen erlebt die chinesische Straßenverkehrsunordnung ihren Höhepunkt. Hauptfortbewegungsmittel der Chinesen ist der Roller. Unzählige dieser Dinger fahren quietschend und hupend, manchmal mit drei oder mehr Personen besetzt,  durch noch so enge Gassen. Selbst auf Bürgersteigen gibt es keine Sicherheit. Und gepaart mit der chinesischen Ungeduld ergibt das den typischen Mix, der den ganz normalen Alltag auf Chinas Straßen hervorruft. Das Überqueren einer Straße wird deshalb jedes Mal aufs Neue zur Mutprobe. Dabei darf angemerkt sein, dass in China kein internationaler Führerschein, sondern ausschließlich der chinesische akzeptiert wird. Jeder, der sich einmal auf chinesischen Straßen bewegt hat, wird fortan wissen warum.
  


Die letzten Tage bis zum Abflug verbringe ich dann in Kunming. Eine sehr entspannte Stadt, sauber und strukturiert. Nach der langen Reise kommt sie fast ein wenig unchinesisch vor. Untergebracht bin ich in einem Hostel, wie man es sich besser nicht wünschen kann. Vollgepackt mit super Leuten, unter anderem zwei Kölner, die in den letzten dreizehn Monaten mit dem Fahrrad von Zagreb bis hierher geradelt sind und deren Ziel Neuseeland ist. 13500km stehen bis dato schon zu Buche. Unglaublich. Oder Erik, 52 Jahre und ursprünglich aus Rotterdam. Seit 25 Jahren jedes Jahr für mindestens drei Monate hier in Asien und ein wahres Thailand-Orakel. Die ganzen Insiderinfos muss ich erst mal händeln. Hinzu kommen einige Amerikaner, Briten und Asiaten. Ein bunter Mix also und perfekt für lustige Abende. Kunming bietet seit langem auch endlich mal wieder die Gelegenheit, westlich essen zu gehen. Und so fällt die Wahl auf Papa John´s, spezialisiert auf Pizza und Pasta. Zwar spricht die Bedienung in einem amerikanischen Restaurant kein Englisch aber das Essen ist super. So gut, dass ich am zweiten Tag gleich nochmal vorbei schaue..
Das Restaurant ist wieder nur spärlich besucht. Die Kellnerin weißt mir gleich einen Platz zu. Am Fenster, so wie ich es mag. Ich nehme direkt Platz und vertiefe mich in die Speisekarte. Herrlich diese Auswahl, alles würde mir auf Anhieb zusagen. Keine Minute später bewegt sich da was. Langsam ziehe ich die Karte nach unten und schiele vorsichtig über den Rand hinaus. Mir gegenüber, am selben Tisch, sitzt eine Frau und lächelt mich an. Ein bissl dick ist sie, die Gesichtszüge deuten auf Thai oder Philli. Vom Alter her könnte es meine Mutter sein. Kurz lächle ich zurück, dann widme ich mich wieder voll und ganz der Nahrungsauswahl, lege aber aus Höflichkeit die Karte auf den Tisch. Wie angewurzelt sitzt sie da, keine Regung. Wieder blicke ich nach oben. Sie schaut mich ja immer noch an. Viel merkwürdiger, sie hat Hausschuhe an, neben dem Tisch steht ein vollgepackter Koffertrolli. Sehr merkwürdig. Aber gut, ich wähle in aller Ruhe mein Gericht und übergebe ihr die Karte. Nun ist sie endlich beschäftigt, blättert wie wild hin und her. Bei der Bestellung wartet sie lange, bestellt anschließend das gleiche Hauptgericht wie ich und flüstert der Bedienung irgendwas ins Ohr. Sie scheinen sich zu kennen. Die Karte ist weg, schon stehe ich wieder im Fokus. Sehr aufdringlich. Ich spreche sie an. Sie gibt nur ein paar kleine unverständliche Brocken Englisch von sich. Unterhaltung also nicht möglich. Kein Problem, während ich auf mein Essen warte und permanent angestarrt werde, schaue ich so lange aus dem Fenster. Kurze Zeit später bekommt sie ihre Spaghetti und ich meine Vorsuppe. Endlich. Alles gut soweit, nur warte ich anschließend verdächtig lange auf meine Nudeln. Frage ich doch einfach mal nach, ob da vielleicht etwas vergessen wurde. Die Handzeichen der Kellnerin korrigiere ich unmissverständlich. Sie bestellt Nudeln, ich bestelle eine Vorsuppe und Nudeln. Ganz einfach. Als sie mit ihrem Essen fertig ist, steht sie auf, läuft um den Tisch und setzt sich direkt neben mich, um mir mitgebrachte Servietten anzubieten. Ich lehne dankend ab, schließlich stehen Servietten zu Hauf auf dem Tisch. Und da kommen auch schon meine Nudeln. Während ich esse schiebt sie sich langsam näher und näher. Ok, Schluss. Ich lege mein Besteck zur Seite, wende mich ihr zu und frage mal nach, was das hier werden soll. Keine Reaktion. „I´m here for eating, not for dating! Ok?“ Keine Reaktion. Wie auch, wahrscheinlich hat sie kaum ein Wort verstanden. Nun gut, ich esse die Pasta und stehe auf. Auf dem Weg zum Counter frage ich noch einmal kurz in eine Runde chinesischer Geschäftsleute, ob heute vielleicht irgendein besonderer Tag in China sei. Sie versichern mir, dass das nicht der Fall ist. Denn was dort am Counter auf der Rechnung stehen wird ist schon viel zu lange offensichtlich. Selbstverständlich soll ich alles zahlen. Für eine Frau, deren Anwesenheit ich nie gewünscht habe, die auch noch nicht einmal annähernd attraktiv ist. Sorry. Und was ist, wenn ich die Rechnung bezahle, nimmt sie dann ihren Koffer und zieht bei mir ein? No way. Die Angelegenheit kläre ich mit dem Englisch sprechenden Restaurantleiter. Hier geht’s nicht um die paar Euro. Nachdem er die Pasta mit unzähligen Entschuldigungen von der Rechnung streicht, muss ich diese auch nur noch einmal korrigieren, damit ich nicht weiterhin zu viel zahle. Mit einem Schmunzeln verlasse ich den Laden. Die Story ist der Brüller in der abendlichen Runde. Ein lustiger Abschluss des Kapitels China. Und morgen geht’s ab nach Bangkok..

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