Donnerstag, 19. Januar 2012

Neuseeland (Dezember)

Da bin ich also. Neuseeland.
Betrachtet man einmal die Weltkarte, gibt es kaum einen Ort auf der Erde, der weiter von unserer Heimat entfernt liegt, als der Zwei-Insel-Staat. Nach langer Reise bin ich also angekommen - am anderen Ende der Welt.


Das Treffen mit Alex und Ben kommt früher als gedacht. Ein Apfel im Gepäck von Alex schlägt den Sicherheitsbeamten auf den Magen. Und so gibts nach fast 40 Stunden Anreise von Deutschland für die Beiden obendrauf noch eine Diskussion mit dem örtlichen Zoll. Der Apfel bleibt da, alles wieder in bester Ordnung. Viel wichtiger: Der Weg nach draussen ist frei. Der Weg, um unser gemeinsames Ziel in die Tat umzusetzen..
Durch den Kontakt mit den Beiden wird mir bewusst, wie viel Hektik, Erwartungshaltung und Planungswille sie mitbringen. Hinter ihnen ein langer Flug, vor ihnen nicht ein einziger Termin, auf ihnen keinerlei Druck. Einzige Aufgabe: Zeitlich völlig flexibel in ein wenige Kilometer entferntes Hostel zu gelangen um sich dort ein paar Tage zu akklimatisieren. Wie Urlaub sollte es hier eigentlich sein, so unglaublich einfach wäre es, sich zurück zu lehnen und die Dinge laufen zu lassen. Aber an dieser Stelle tritt eine Situation ein, die, so glaube ich, für viele eine wirkliche Herausforderung darstellt: Einmal wirklich nichts zu tun. Gar nichts.
Die Italiener sprechen von „la dolce farniente“, dem „süßen Nichtstun“, ohnehin sind sie Meister des Genusses. In Asien spielt die Meditation eine tragende Rolle. Das diese Reise für mich die Möglichkeit bietet, eine völlig andere Seite kennen zu lernen, zur Ruhe zu kommen und ein gänzlich anderes Leben zu führen, wurde mir erst in Asien wirklich klar. Das sie auch die Chance ist, einen ungeliebten Teil seines Selbst hinter sich zu lassen. Einige ungliebte Eigenschaften, an denen es gilt zu arbeiten. Zwar hatte ich mir mit der Buchung des One-Way Tickets bereits im Vorfeld maximale Freiräume geschaffen, aber diese wirklich schätzen zu können lernte ich erst im Laufe der Tour. Bewusst und unbewusst begann ich, mein Leben in gewisser Weise auf den Prüfstein zu stellen, zu experimentieren und Neu gelerntes anzunehmen. Der Fokus verschob sich dabei zunehmend von dem, was noch vor mir lag zu mir und dem Moment. Bewusstsein und Genuss begannen meine Tage mehr und mehr zu prägen als Planung und Erwartungshaltung. Step by step beginnst du deibei deinen Geist zu öffnen und ihn mit wahrem Reichtum zu füllen. Weit im Hinterland, umgeben von traumhaft schöner Natur und in völliger Abgeschiedenheit, hast du keinen Plan, hier kannst du dich jedem Rythmus hingeben der gerade erklingt. Hier sprürst du, wie sehr du es vermisst hast, weit oben in den Bergen auf einer Brücke zu stehen und leichten Nieselregen auf der Haut zu fühlen oder am Meer zu liegen, dem Rauschen der Wellen zu lauschen und die warmen Sonnenstrahlen einzufangen. Hier spürst du, wie sehr es einem gefehlt hat, ein Teil zu sein, von Wasser, Wind und Sky.


In den folgenden Tagen besteht unsere hauptsächliche Beschäftigung darin, nach einem fahrbaren Untersatz Ausschau zu halten. Ein Bulli soll es schon sein, also ein Transporter, in dem wir alle Drei Platz finden werden. Um uns einen Überblick zu verschaffen, klappern wir zunächst die umliegeden Märkte ab, bis uns in einem Vorgarten von Penrose, einem Low-Income Viertel von Auckland, ein schneeweisser Bulli in die Augen sticht. Ein Nissan Caravan, 3L Diesel, Baujahr 1997 mit zwei Schiebetüren. Er gehört einem Autohändler auf der gegenüberliegenden Straßenseite, bei dem unser ursprünglich ausgewählter Transporter in Rot auf Grund von Rost an der A-Säule nicht über die nächste Warranty of Fitness Prüfung hinaus kommen wird. Anstatt des lahmenden Gauls entscheiden wir uns also für das Rennpferd. Autohändler Chris verkauft ihn uns mit den Worten: „If you guys wanna start today, this is your van!“ Perfekt, nehmen wir mit. Er trägt das Kennzeichen BQR413 aus dem wir seinen zukünftigen Namen „BORAT“ ableiten. Gern würden wir sofort losfahren aber startklar sind wir noch nicht, denn wir stehen vor einem komplett leeren Wagen. Chris gibt uns das OK, dass wir vor der Autowerkstatt arbeiten dürfen, stellt uns sogar das nötige Werkzeug zur Verfügung. Nach kurzer Planung bauen wir das Innere in mehreren Arbeitsschritten nach unseren Vorstellungen aus. Schritt für Schritt nimmt unser neues Schlafzimmer Gestalt an. Zuerst eine Rahmenkonstruktion mit Liegefläche, anschließend zwei passgenaue Matratzen. Zwei von uns werden oben, einer unten schlafen. Wir sind uns einig, dass vor jeder Nacht rotiert wird. Schon zwei Tage später ist alles fertig.





Wir sitzen wie auf heißen Kohlen und wollen endlich losfahren. Klar, wer träumt nicht davon, im eigenen Wagen ein unbekanntes Land zu erkunden. Wohin? In den Norden wollen wir, zum Cape Reinga, dem nördlichsten Punkt Neuseelands. Wir erweitern unser Equipment um zwei Gaskocher und einen Holzkohlegrill. Hinzu kommt der ganze Kleinkram wie beispielsweise Kartenmaterial und Essutensilien. Wir sind eigentlich startklar, als eine Info von der kleinen Arbeitsvermittlung unseres Hostels die Pläne auf den Kopf stellt. Im Südosten, in Hastings, soll es Arbeit geben. Wir schauen uns überlegend an. Nach dem Bullikauf wäre Liquides in der Urlaubskasse gar nicht so verkehrt und bis Hastings ist es auch ein Stück, eine erste Ausfahrt können wir also trotdem unternehmen. Das überzeugt uns. Um nicht die gesamte Strecke an einem Tag bewältigen zu müssen, wählen wir auf der Landkarte willkürlich einen See auf halber Strecke aus, den Lake Arapuni.
Am Abend vor der Abfahrt streikt Borat. Nichts zu machen. Im Autohaus hatten sie extra noch den Starter getauscht, der wohl wieder Probleme macht. Resignation. Am kommenden Morgen probieren wir erneut. Er geht an. Auf Nummer sicher fahren wir in die Nähe unseres Händlers und verbringen dort die erste Nacht im mobilen Zuhause. Einen Tag später bekommen wir Borat nach erneuter Durchsicht zurück. Er läuft, der Startschuss fällt verspätet. Am frühen Vormittag verlassen wir Auckland in Richtung Süden. Es wird ländlicher, die Landschaft demnach grüner und grüner. Weit kann es nicht mehr sein zum See. Um uns herum ein faszinierendes Licht durch die tief stehende Sonne. Schafe und Kühe grasen auf saftig grünen Wiesen direkt neben der Strasse. Neuseeland, einfach wunderwunderschön. Genau wie unsere Übernachtungsstelle unmittelbar am See, in dessen Mitte eine kleine Insel aus dem Wasser hervor schaut. Wenig später geht die Sonne zum Abendessen unter. Zwicken müsste man sich, unser eigener Bulli. Das ging aber fix, wir sind gespannt.





Am nächsten Morgen bin ich schon früh auf den Beinen. In völliger Stille schwimme ich zum gegenüberliegenden Ufer. Über der Wasseroberfläche eine milchige Nebeldecke. Fast unheimlich wirkt die gespenstische Ruhe. Mit dem Bad als perfekten Wachmacher fahren wir alsbald weiter, besuchen eine Garnelenfarm, in der man mit einer Angel versuchen kann, ein paar von den leckeren Dingern zu erwischen und erreichen Lake Taupo, Neuseelands größten See, um dort die Nacht zu verbringen. In einer kleinen Nische, umgeben von Bäumen direkt am Wasser. Wir spüren, das kann was Großes werden.

Keine 24h später stecken wir fest. An der Ostküste Neuseelands in einem Kies-Sandgemisch. Bei der Suche nach einem Stellplatz für die Nacht wagen wir uns zu nah ans Meer heran, schon ist es passiert. Zwar wirkt die Situation streckenweise aussichtslos, aber keiner von uns erweckt den Anschein der Resignation, es wird keine andere Möglichkeit zugelassen, als das er da raus muss. Die Bärenkräfte einer alten Frau sind nicht genug, aber wenig später ist er wieder frei. Mit der Hilfe von zwei Belgiern, die wir danach gleich auf ein Bier einladen.
Tag zwei der Arbeitssuche kann also eingeläutet werden. Bevor es losgehen kann, entledigen wir Benjamin noch seiner Haare. Einheitliche 5mm zieren nun sein holdes Haupt.
Trotz des tollen Sommerschnitts erweist sich die Jobfahndung auf eigene Faust schwieriger als erwartet. Wir kommen nicht umhin, in einem Hostel einzuchecken, das unmittelbaren Kontakt zu den zahlreichen Orchards hat. 26 Leute sind inklusive uns einqaurtiert. Wenige Stunden später haben wir alle einen Job. Auf einer Apfelplantage zum „Apple-Thinning“. Die ersten zwei Tage gibt es zur Eingewöhnung den gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohn, der uns ungefähr $12 netto pro Stunde einbringt. Dann gehts weiter im Akkordlohn. Selbst unser Vorgesetzter Jeff ist wohl ein wenig überrascht, wie schnell wir auf einmal arbeiten können. Unsere Aufgabe besteht darin, die großen Apfelbündel auszudünnen und je nach Art einzelne Äpfel oder Apfelpärchen stehen zu lassen. Bis Weihnachten arbeiten wir an Bäumen der Sorte Fidji, Galaxy, Pink Lady und Royal Gala. Wir erarbeiten uns ein gutes Polster für die bevorstehenden Feiertage.


Im Hostel gibts immer wieder tolle Küchenzeremonien. Chinesen, Thailänder, Franzosen, eine Amerikanerin und auch Deutsche versuchen sich an verschiedensten Speißen. Auch spielen wir Rugby gleich um die Ecke, wobei sich Benjamin und ich als Flügelläufer und Abwehrrecken auszeichnen können. An freien Tagen machen wir Ausflüge, so zum Cape Kidnappers, das nur bei Ebbe erreichbar ist. Die schroffe Felsenlandschaft ist beeindruckend. Auf dem Heimweg können wir über bestimmte Strecken nur noch waden, denn das Wasser kommt zurück. Langsam und gleichmäßig verschwindet der Sand und das Wasser schlägt wieder gegen die dahinter aufragenden Felsen.





Durch die schmalen Schlitze unserer Picknickbären-Vorhänge drängen sich die ersten Sonnenstrahlen. Ich wühle mich aus dem Schlafsack und setze einen Fuß auf den bereits aufgeheizten Asphalt. Leise schließe ich die Tür, denn Alex und Ben schlafen noch. Heute ist Weihnachten, der 24. Dezember. Ein Ereignis, dass man sich regelrecht ins Gewissen rufen muss, denn Weihnachtsstimmung kommt hier bis auf unsere Weihnachtsmützen und unseren kuscheligen Santa nicht auf. Die Stellplätze um uns herum, die gestern allesamt noch frei waren, sind großenteils durch weitere Bullis belegt. Ich schnappe mir einen Klappstuhl und setze mich runter an den See. Einige Kinder spielen am Wasser. So unmittelbar nach dem Aufstehen blicke ich ein wenig verschlafen über dieses herrliche Panorama. Blauer Himmel und glasklare Sicht, auf der anderen Uferseite ragen die schneebedeckten Gipfel des Tongario Nationalparks empor. Tief atme ich ein. Die Ruhe wird bald durch ein kreisendes Propellerflugzeug gestört, das wenig später in der Mitte des Sees aufsetzt und langsam in meine Richtung treibt. Dicht neben mir legt es an. Diese Kulisse könnte besser nicht sein, um auf den heutigen Tag einzustimmen, denn unser Weihnachtsgeschenk haben wir in Form eines Skydives gebucht. Wir haben uns also entschlossen, in 12.000 Fuß Höhe aus einem Flugzeug zu springen und mit mehr als 200 km/h in Richtung Erde zu rasen. Die Voraussetzungen sind mit dem heutigen Wetter absolut perfekt.
Im Bulli machen wir uns nach einer Tasse Kaffee auf den Weg zum Flugplatz. Am Himmel trudeln bereits Fallschirmspringer zur Erde. Nachdem alle vollzählig sind, gibts Instruktionen im Office. Zwei Fallschirme hat jeder Springer, den Hauptschirm und einen kleineren Notschirm, eine letzte Chance, die harte Rückkehr auf festen Boden zu verhindern. Unser Instruktor meint, im Falle des Notschirms könne man sich glücklich schätzen: “Until the second one is open, you can fly longer. And the best thing is, without any charge.“ Alle Sprungwilligen sind nicht gerade von den Hockern gerissen.
Wenig später sitzen wir im Flugzeug. Auf schmalen Bänken, dicht aneinander gereiht jeweils ein Schützling und sein Sprungguide. Ich werde mit Liam springen, der mit über 2000 Sprüngen die notwendige Erfahrung besitzen sollte. Da ich das Flugzeug als Letzter bestiegen habe, sitze ich ganz vorn, direkt neben der Luke. Der Absprung wird in umgekehrter Reihenfolge durchgeführt. Ich habe also das undankbare Los gezogen, als Erster raus zu dürfen. Kontinuierlich klettert der Höhenmesser des GPS-Gerätes nach oben und gibt wieder, was der laut arbeitende Propeller bereits an Arbeit verrichtet hat. Es geht immer weiter rauf, die ersten Wolken sind nun schon mit uns auf einer Höhe. Mein Guide klopft mir auf die Schulter: „Get ready mate and prepare for the jump!“ Wir sind auf Absprunghöhe. Er klingt mich ein, checkt ein letztes Mal das Equipment, dann geht die Luke auf. Keine 10cm neben mir gehts nun tief nach unten, wild pfleift mir der Wind um die Ohren. War ich bis zu diesem Zeitpunkt überrascht, wie entspannt ich das Alles aufnehme, ist mir nun ein wenig flau im Magen. „You wanna jump?“ Die Frage kommt genau zur richtigen Zeit und reißt mich aus meinen Bedenken. „Yes, of course!“ Mein Liveguard schmunzelt, lehnt sich nach hinten und hebt mich über die Kante nach draußen. Mein Herz spüre ich wummern, tief da drinnen. Ich winkle die Beine an, lehne den Kopf nach hinten, dann lässt Liam die Griffe los und lässt uns fallen. Ein unbeschreibliches Gefühl. Alles ist so weit weg, übrig bleibt totales Glück. Nach einer Drehung sehe ich für einen Moment das davon fliegende Flugzeug, das sich wie eine Momentaufnahme einbrennt. Gleich danach bekommt uns Liam stabil und wir fallen in Richtung Erde. Wolken kommen näher und näher, bis wir durch sie hindurch rauschen. Fast symbolisch habe ich das Gefühl in diesem Moment so richtig angekommen zu sein in Neuseeland. Von jetzt auf gleich offenbart sich auch eine traumhafte Sicht, die sich kurz darauf noch entspannter genießen lässt, als Liam den Schirm zieht. Nach einem kurzen Ruck gehts ganz langsam zurück zur Erde. Das Grinsen verschwindet einfach nicht aus meinem Gesicht. Und auch Alex und Ben, die wenig später am Boden eintreffen, geht es genauso.

 


Highway 1 führt uns in Richtung Norden. An einem Wasserfall, in dessen Nähe wir die Nacht im Bulli verbringen wollen, treffen wir Brad. Er kommt aus Washington, im Nordwesten der United States. Zu Fuß läuft er einen teilweise dokumentierten Trail quer durch Neuseeland ab. Allein. Bis auf ein paar Kleinigkeiten hat er nur das Nötigste bei sich. Ein Zelt, einen Multifunktionskocher und eine Tüte Haferflocken. Wo wir herkommen möchte er noch für seine Internetseite wissen: „Jena, Thuringia - the green heart of Germany“ antworten wir. Das Szenario um uns herum ist überragend. Ein Oval aus Bäumen, in deren Mitte wir liegen. Es wird dunkel und die Baumkronen zeichnen sich wunderschön am Himmel ab. Zurück am Auto sehen wir das erste Mal die Augen eines Opossums im Licht unserer Taschenlampen. Vergleichbar sind sie mit einem Waschbär. Während Benjamin schon im Auto ratzt, durchwühlt es unseren Abfall und verschwindet anschließend raschelnd im Unterholz.

Silvester verbringen wir in Whangarei. In einem Hostel mit Campingplatzcharakter steigen wir für ein paar Tage ab. In der Nguruguru Road. Meine Aussprache dieser Strasse erheitert die Dame im Taxibüro und sie lobt mich für diesen sensationellen Versuch. Da sie auf Anhieb bescheid weiß, wo wir abgeholt werden sollen, gehe ich natürlich von einem Guten aus. Sehr freundlich. Unser mitgnommenes Bier trinken wir an einem Parkplatz um die Ecke zur einzigen Partystraße bis ein Polizeiwagen auf uns zugefahren kommt. Zwei Officer steigen aus und fordern uns auf, das Bier unverzüglich wegzuschütten. In der ersten Bar, in der wir uns umschauen, schlängeln sich acht Polizisten durch die Menge. Kontrolle wird hier anscheinend groß geschrieben. Grund ist die erhöhte Zahl an Übergriffen unter Alkoholkonsum, der Aufmarsch an Polizisten wirkt dennoch übertrieben. Um Mitternacht stehen wir zwischen vielen Leuten auf der Straße und stoßen an. Ein komisches Gefühl, dies 12 Stunden vor allen Anderen zuhause zu tun. Während es dort der letzte Mittag im alten Jahr ist und sich alle bald auf die Socken machen werden, befeiern wir das Neue. 2012 - ich wünsche euch für eure Träume, Ziele und Vorhaben das nötige Glück und genügend Kraft sie zu verwirklichen.