Mittwoch, 2. Mai 2012

Neuseeland (April)

In den letzten Wochen hat ein wenig der Alltag Einzug in unser Leben in Christchurch gehalten. Sechs Tage die Woche sind wir auf der Baustelle in den einstigen Geschäftsräumen der Westpac-Bank. Die großzügig ausgestatteten Räumlichkeiten, all die mühseelige Arbeit der vergangenen Zeit, beginnt Stück für Stück wieder zu verschwinden. Vergleichbar mit einem großen Ameisenhaufen, in dem die abertausenden Helfer eifrig an der Herrichtung arbeiten, nur eben in umgekehrter Reihenfolge. Würde man sich dieses Treiben zudem im Zeitraffer anschauen, das Gewusel wäre grenzenlos. 
Seit ein paar Tagen haben wir auch einen neuen Supervisor. John aus Irland. Ein wenig untersetzt ist er, sein Kopf spiegelglatt rasiert. Auffallen tut er neben seiner lauten Ansagen aber vorallem durch seinen vor Selbstbewusstsein nur so strotzenden Gang, wenn er wieder einmal über die Baustelle schreitet. Mit ein paar britischen Gefolgsleuten wurde er extra aus Europa eingeflogen, um die Geschicke in die Hand zu nehmen. Unser bisheriger Vorgesetzter Peter muss seinen Platz räumen. Von nun an hallen die schroffen Kommandotöne von John durch die Etagen und ein wenig vermissen wir die feinfühlige Umgangsart von Peter, die wir schnell zu schätzen gelernt hatten. Aber schon nach einiger Zeit beginnt sich auch John von einer anderen Seite zu zeigen. Zwar bleiben seine Ansagen auch für den einfachsten Arbeiter unmissverständlich, klar und direkt, aber seine menschliche Seite gewinnt zusehens an Bedeutung. Für meinen bisherigen Weg interessiert er sich, wie lange es mich noch hier hält und wo es noch hingehen soll. Gern berichte ich ihm von meinen Erfahrungen, erzähle ihm von Amerika, Asien und meinen Eindrücken in Neuseeland aber wie es weitergeht, das steht noch in den Sternen. Zwar schweben mir desöfteren interessante neue Ziele vor, die schnell zu Träumerein führen, aber das nun alles schon im Voraus festzulegen und mir meinen weiteren Weg vorzugeben, das möchte ich nicht. Neue Möglichkeiten finden ihren Platz im Hinterkopf und wenn sich die Chance ergibt wird sie ergriffen werden. Australien ist ein ziemlich konkretes Thema, aber alles zu seiner Zeit und wenn sie reif ist dafür. 
Gesehen hat John auch schon Einiges, gibt viel von dem Preis und überrascht mich immer mehr, wenn er zu erzählen beginnt. Nach mehreren Wochen der Zusammenarbeit kann ich den ersten Eindruck, als er mir mit den Worten: „Don’t touch it. Leave it. You understand? Yes?“ begegnete und mich wie einen dummen Jungen behandelte, in keinster Weise mehr nachvollziehen. Dachte ich mir damals noch stets „Yes sir“, wenn er wieder einmal den Höflichkeitsabstand stark unterschritt und bis auf wenige Zentimeter heran trat, und war immer froh, wenn er wieder seiner Wege ging, scherzen wir nun und anschliessend lässt er mich meiner Aufgaben nachgehen. Unseren Vermittlungsagenten überhäuft er mit Lobeshymnen über uns. Nur die allmorgendlichen Fragen, wie viele Bier und Frauen es gestern Abend waren, kann er sich nach wie vor nicht verkneifen. Allein bei dem Gedanken an die für ihn bereits nach einem Monat schon legendäre Manchester Street, an deren Seiten sich bereits am frühen Abend leicht bekleidete Damen zur Schau stellen, gerät er ins Schwärmen und reibt sich verschmitzt lachend die Hände. Ein Ire durch und durch, so wie die ganze Bande..



Das Osterwochenende steht vor der Tür. Vier freie Tage, die die Chance für einen Ausflug bieten. Unsere Wahl fällt auf den Mount Cook, den höchsten Berg Neuseelands. Am Karfreitagmittag machen wir uns mit Borat auf die Socken. Wir verlassen Christchurch und biegen auf den Scenic Drive ab, eine kleine Straße durch eine landschaftlich reizvolle Ecke des Landes, die ich von zwei Münchnern beim Frühstück wärmstens ans Herz gelegt bekommen habe. Gesagt, getan. Die Empfehlung ist super und eine wunderbare Alternative zum Highway 1, der zwar sicher die schnellste Verbindung darstellt, aber Zeit soll an unserem verlängerten Wochenende keine Rolle spielen. Und darüber bin ich sehr froh. Denn Zeit birgt unter uns drein auch nach nun mehr fünf Monaten des gemeinsamen Reisens das größte Konfliktpotential. Wann und wo werden wir wie etwas machen.. Aber mal ehrlich: Sind wir in dieser Hinsicht nicht lange genug Soldat gewesen? Bietet diese Auszeit hier nicht die Möglichkeit, mal etwas anderes auszuprobieren? Es bleibt die Einsicht, dass wir in diesem Punkt grundlegend verschieden sind. Und es mit höchster Wahrscheinlichkeit auch bleiben werden. Aber wir haben darüber gesprochen, akzeptieren mittlerweile die verschiedenen Ansichten und nehmen es mit Humor. Viel wichtiger: So weit wie möglich gehen wir aufeinander zu, das macht es einfacher. Was wir aber alle zusammen sehr zu schätzen wissen: Wir können gleichermaßen lachen und streiten und uns stets wieder in die Augen schauen, eine Sache, die sich als sehr wertvoll erwiesen hat.
An einem schroffen Gebirgsfluss halten wir an und wagen einen Blick von der wackligen Hängebrücke hinab. Bei jeder Überfahrt eines Fahrzeugs beginnt sie gleichmäßig zu schwingen. Ganz wohl fühlen wir uns nicht, aber die Aussicht in die traumhaft schöne Landschaft ist grandios. Die Breite des Flussbettes und die Skalen am Ufer lassen erahnen, welche Höhen der Wasserspiegel bei eintretender Schneeschmelze anzunehmen vermag und welche Wassermassen sich dann ihren Weg in die Weite der umliegenden Valleys bahnen. Träumend stehe ich wie ein kleiner Zwerg in der Mitte der riesigen Brücke und versuche mir die Kraft und Urgewalten vorzustellen, die hier im kommenden Frühjahr vorherrschen werden. Auch Ira und Matthias, die beiden Münchner vom Frühstück heute Morgen, treffen wir an dieser Stelle wieder. Es wird nicht das Letzte mal sein, dass wir ihnen in den nächsten Tagen begegnen. Sie berichten von einem Erdbeben in Christchurch heute Vormittag zum Zeitpunkt unserer Abfahrt. Eine 4,5 auf der Richterskala. Im Auto haben wir von all Dem nichts mitbekommen, aber dennoch ist die Aktivität in dieser Region beachtlich und wie sie die Bevölkerung seit einigen Jahren in Atem hält. Noch für diesen Monat ist ein weiteres schweres Beben vorhergesagt, das hoffentlich ausbleiben wird.



Die Straße schlängelt sich in einigen engen Kurven die steilen Bergrücken hinauf. Kontinuierlich gewinnen wir an Höhe. Durch prächtige Kulissen führt sie uns nach ein paar Stunden Fahrt zum Lake Tekapo, vor dessen durch Bergkristalle unwirklich türkisblau schimmernder Wasseroberfläche wir einen Moment inne halten. Es ist windstill, sie gleicht einem überdimensionalen Spiegel. Im Hintergrund perfektionieren die weit aufragenden schneebedeckten Gipfel der Südalpen dieses traumhaft schöne Panorama. Wir umfahren den See und durchqueren ein schier endlos wirkendes Valley, an dessen Ende unser Campingplatz am Fuße steil aufschießender Berge liegt. Eine Hütte bietet uns Schutz und genug Platz zum Kochen und Essen. Bald wird es dunkel. Als wir vor die Schiebtür nach draußen treten und nach oben schauen, verschlägt es uns für einen Moment die Worte. Weit oben wird der Gletscher durch den kugelrunden Vollmond angestrahlt und erzeugt eine beeindruckende Atmosphäre. Wie im Tageslicht wirkt er, drum herum ist alles dunkel.


  

Am nächsten Morgen kriechen wir nach einer frischen Nacht aus dem Auto. Wir wollen den Tag für eine Wanderung in die Umgebung nutzen. Die Wahl fällt auf die umliegenden Gletscherseen, die durch einen gut passierbaren Wanderweg zugänglich sind. Während wir laufen hören wir auf einmal tosendes Gepolter. An einer gegenüberliegenden Felswand gehen einige Lawinen ab. In einem lauten Donnern stürzen sie ins Tal. Auslöser ist die Sonne, die sich kontinuierlich ihren Weg steil und steiler nach oben bahnt und die ruhenden Schnee und Eismassen der letzten Jahre schwächt. Und so brechen immer wieder Teile ab, reißen Fels mit in die Tiefe und erzeugen dieses laute, durch die Täler hallende Grollen. Nach knapp zwei Stunden erreichen wir den Gletscher zu einer ausgiebigen Rast. Auf dem Gletschersee davor treiben einige gigantische Eisblöcke im grün-braunen Wasser, die durch Verunreinigungen aber annähernd die Farbe des umliegenden Felsgesteines angenommen haben. Rings herum ragen fast senkrecht die Steilwände der hohen Bergspitzen empor.
Aus unserer Rast ist eine sehr ausgiebige Pause auf einem Felsvorsprung oberhalb des Gletschersees geworden. Bis zum Nachmittag haben wir die Ruhe genossen und unten im Tal die sich tummelnden Touristen beobachtet. Nun ist es Zeit, den Heimweg anzutreten. Langsam verschwindet die Sonne hinter den Bergen und weit unten im Tal kann man die immer größer werdenen Schatten beobachten, die einen Vorhang über unser Valley ziehen um die bevorstehende Nacht herbei zu bringen. Und wir haben Glück, ein seichter Fön zieht durch die Berge und bringt warme Luft, so dass es selbst bei völliger Dunkelheit möglich ist, im T-Shirt draußen zu sitzen. Beste Voraussetzungen für eine angenehme Nacht, in der wir noch nicht einmal die Schlafsäcke zumachen müssen. 




An den beiden Folgetagen machen wir uns wieder auf den Weg in Richtung Christchurch. Mit einem Zwischenstopp am Lake Tekapo, einer Runde Minigolf und einer Übernachtung an einem idyllischen ländlichen Dock irgendwo zwischen Kuh- und Schafweiden. Unser Osterwochenende neigt sich dem Ende entgegen, viel zu schnell hat uns Christchurch und die Redzone wieder.
Nach getaner Arbeit verbringen wir unseren Feierabend wieder einmal in der Küche und den Wohnbereichen unseres Hostels. Ich mag die Gesellschaft der vielen Leute sehr und auch das Kochen macht so gleich viel mehr Spaß. An dem großen erhöhten Esstisch, der umgeben von Barhockern in der Mitte unserer Küche steht, trifft man sich anschließend zum Plausch und tauscht Erfahrungen aus. Super interessanten Leuten begegne ich hier. Neben der familiären Atmosphäre hat unser Hostel noch ein ganz besonderes Feature zu bieten: Eine Badewanne. Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie gut es tut, nach so langer Zeit mal wieder ein Bad zu nehmen. Einfach herrlich. Fortan werde ich sehr oft davon Gebrauch machen und genießen. Recht bald legen wir uns dann meist zum Schlafen, um für den nächsten Arbeitstag ausreichend fit zu sein. So auch an diesem Abend, es ist ein Feierabend fast wie jeder andere. Aber eben nur fast.. Gerade habe ich die Augen zugemacht, da fängt mein Bett auf einmal ganz langsam an zu schwingen. Ich öffne die Augen. Sind da die Nachbarn im Zimmer nebenan zugange? Immer stärker werden die Schwingungen. Ich blicke zur anderen Seite des Raumes, wo mich auch Benjamin ungläubig drein schauend anblickt. Die Flügel des großen Spiegels und die Lampe in der Mitte des Raumes schwingen gleichmäßig mit. Nach gut 10-15 Sekunden ist alles vorüber. Unser erstes wirklich gespürtes Erdbeben. Für die Einheimischen hier keine große Sache, sogar eines der angenehmeren Sorte und nur eine Stärke von 4,2, wie wir am Folgetag auf Arbeit erfahren. Für uns eine absolut neue Erfahrung und ein Vorgeschmack darauf, welcher Ausnahmezustand hier vorherrschen kann, wenn sich der Untergrund derart heftig bewegt, dass sich niemand mehr auf den Beinen halten kann und sogar Häuser zum Einstürzen bringt. Zwei Beben dieser Größenordnung hat es hier in den letzten Jahren schon gegeben und die Stadt zu dem gemacht, was sie im Moment ist. So unglaublich schade, denn Christchurch hat wunderschöne Ecken. Eine zumindest für Erdbeben nicht so empfindliche ist der traumhaft schöne Hagley-Park, der mit seinen vielfältigen Themengärten mitten im Herzen der Stadt zum Relaxen einlädt. Es gibt kaum ein Wochenende an dem ich ihm keinen Besuch abstatte und die willkommene Ruhe zum lauten Redzone-Alltag genieße. Ein wunderbar friedvoller Ort der Entspannung, perfekt um Energien in Einklang zu bringen und Kraft für die bevorstehende Woche auf der Baustelle zu tanken. Insofern uns nicht ein Erdbeben zuvor kommt und unseren stark beschädigten Arbeitsplatz schneller dem Erdboden gleich macht, als eigentlich vorgesehen.






1 Kommentar:

  1. Ach ja.. Vielen Dank für das rege Interesse und fast 3500 Zugriffe seit Bestehen dieses Blogs! Es ist schön zu wissen, dass es Leute gibt, die das teilen möchten.. Alles Gute! Stefan

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